Ein Gastbeitrag
Robin Bleser & Jens Fislage
(campus-neurodivers@ruhr-uni-bochum.de)
„Die Ruhr-Universität Bochum steht für Diversität und Chancengleichheit und legt Wert auf einen diskriminierungsfreien Umgang am Arbeits- und Studienplatz.“[1]
So steht es zwar in der Satzung der RUB, der Alltag vieler neurodivergenter Studierender und auch meiner, als Autistin, gestaltet sich allerdings oft anders. Trotz der Möglichkeit eines Nachteilsausgleichs, welcher Studierenden mit Beeinträchtigung zusteht, geht dieser oft an den realen Bedürfnissen neurodivergenter Menschen vorbei. Gerade, weil sich die betroffenen Personen nur schwer in eine Kategorie mit den gleichen Nachteilen oder Herausforderungen pressen lassen.
Ein Nachteilsausgleich ist zunächst einmal eine ärztliche Weisung, welche vom BZI (Beratungszentrum zur Inklusion Behinderter) aufgenommen, verifiziert und durch das Prüfungsamt der RUB offiziell anerkannt wird. Ein solcher Ausgleich ist in allen Fällen eine absolute Notwendigkeit für die Betroffenen. Denn nur so ist es möglich das Studium erfolgreich abzuschließen.
Leider kam und kommt es dennoch immer wieder zu Fällen, in denen insbesondere neurodivergente Studierende diesbezüglich auf Unverständnis stoßen, welches sich nicht nur im Umgang zeigt, sondern schon darin, dass Neurodivergenz teilweise nicht ernstgenommen oder sogar völlig vergessen wird.
So heißt es in §3 der Antidiskriminierungsrichtlinie der Ruhr-Universität Bochum: „(2) Diskriminierung ist eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung einer Person oder einer Personengruppe aufgrund einer oder mehrerer der folgenden Merkmale oder Zuschreibungen:
- Geschlecht und geschlechtliche Identität,
- Ethnische Herkunft und Nationalität (rassistische, antisemitische oder ethnisierende Zuschreibungen),
- Behinderung oder chronische/ langwierige Erkrankung,
- sexuelle Orientierung,
- Familienstand oder familiäre Verpflichtungen,
- soziale Herkunft oder sozialer Status,
- Religion oder Weltanschauung,
- Alter,
- Aussehen.
Dies kann Ausdruck finden in Form von Nichtbeachtung, Ausschluss, Herabsetzung und Gewalt.“[2]
Während sich sicherlich argumentieren lässt, dass sich Neurodivergenz unter den Punkt Behinderung oder chronische / langwierige Erkrankung fassen lässt, bleibt fraglich, ob dies wirklich zu einer Mitbedenkung der spezifischen Bedürfnisse neurodivergenter Personen an der RUB führt. Viele Neurodivergenzen gelten weder als Behinderung noch als Krankheit und wären daher unter diesem Punkt im besten Fall implizit mitgedacht, wenn nicht tatsächlich übersehen.
Neurodivergenz findet so schon in der Erklärung zu Diskriminierungsmerkmalen keine Beachtung und während dies sicherlich nicht beabsichtigt ist, handelt es sich nun mal auch bei Nichtbeachtung um einen Fall von Diskriminierung.
Inklusion ist an der RUB nicht optional, sondern eine mit feststehenden Regeln der Institution verbundene Verpflichtung, welche sich neben den Antidiskriminierungsrichtlinie auch aus dem Gleichstellungsgrundsatz[3] ergibt.
Hier heißt es: „Handlungsleitend ist für uns ein intersektionaler Ansatz, der die verschiedenen Dimensionen von Chancengleichheit in ihren Wechselwirkungen betrachtet. Wir gestalten unsere Kommunikation so, dass sie die Vielfalt an der Universität verdeutlicht und Stereotypisierungen entgegenwirkt.
Wir bauen Diskriminierungen aufgrund des Geschlechtes sowie anderer Diversitätsmerkmale durch Prävention und entschiedenes Handeln ab und setzen uns für den Schutz und das persönliche Sicherheitsgefühl aller Mitglieder und Angehörigen der RUB auf dem Campus ein.“[4]
Dazu wird in §14 der gemeinsamen Prüfungsordnung[5] für den BA deutlich, dass ein Nachteilsausgleich dazu da ist, einen Nachteil in einer Prüfungssituation auszugleichen und nicht im Ermessen der Lehrenden liegt: „Macht die Kandidatin bzw. der Kandidat durch ein ärztliches Zeugnis glaubhaft, dass sie bzw. er wegen länger andauernder oder ständiger körperlicher bzw. psychischer Behinderung oder chronischer Krankheit nicht in der Lage ist, eine Prüfung ganz oder teilweise in der vorgesehenen Form abzulegen, entscheidet der Gemeinsame Prüfungsausschuss auf Antrag über die Form gleichwertiger Prüfungsleistungen.“[6]
Es kann und darf daher nicht sein, dass Teile des Lehrkörpers der RUB sich dieser Verantwortung entziehen oder Weisungen in Form von Nachteilsausgleichen hinterfragen. Studierende, die sich mit einem Nachteilsausgleich an ihre Lehrenden wenden haben bereits eine mühevolle Diagnostik und die gründliche Prüfung durch BZI und Prüfungsamt hinter sich. Fragen nach konkreten Diagnosen und Symptomatiken liegen prinzipiell nicht im Rahmen eines angemessenen Umgangs zwischen Lehrenden und Studierenden. Da verschiedene Diagnosen mit Stigmatisierungen, Vorurteilen und falschen Informationen verbunden sind, liegt es in der Hand der Betroffenen, wem und wie viel sie dazu preisgeben möchten. Die Aufgabe der Lehrenden ist es lediglich, sich nach den Empfehlungen der zuständigen ExpertInnen zu richten, unabhängig von der eigenen Einschätzung, und eine entsprechende Anpassung der Prüfungssituation zu gewährleisten.
Eine zusätzliche Hürde entsteht dadurch, dass eine Art Musterausgleich für die verschiedenen Neurodivergenzen vorzuliegen scheint. Es ist aber nicht damit getan, mehr Zeit für Klausuren und Hausarbeiten anzubieten und auch ein extra Raum für Klausuren löst nicht jedes Problem.
Noch unverständlicher, als die wenig hilfreichen go-to Lösungen scheint es mir allerdings, dass diese den Eindruck erwecken, als gäbe es den Nachteil erst in der Prüfungssituation.
Ich bin aber immer Autistin, nicht erst in einer Prüfung.
Besonders Regelungen zu Anwesenheitspflicht oder bestimmte Seminarstrukturen oder Abgabeerfordernisse stellen für mich viel größere Probleme dar, als Prüfungen selbst.
Während ich z.B. bei Multiple Choice Klausuren, aufgrund der anderen Informationsverarbeitung, tatsächlich wesentlich langsamer bin als neurotypische Studierende, bin ich in Klausuren mit offenen Fragen meistens als erstes fertig, weil ich länger dafür brauche, Informationen aufzunehmen, als Wissen schriftlich wiederzugeben. Ist es also verlangt, Fragen und Antworten zu lesen und dann eine Entscheidung zu treffen, brauche ich mehr Zeit, weil ich nicht Anhand einzelner Schlagworte arbeiten kann, sondern alle Einzelheiten aufnehmen muss. Viele neurodiverse Menschen haben außerdem kein (bzw. ein anderes) Zeitgefühl. Ich habe also keine Ahnung, wie lange etwas dauert oder wie viel Zeit ich für etwas einplanen muss.[7] Wenn es also heißt, ich habe 24 Sekunden pro Frage, klingt dies für mich so kurz, dass ich in Stress gerate und anstatt die Fragen zu verstehen nur daran denke, dass ich keine Zeit habe.
Ähnlich läuft es mit Hausarbeiten. Anstatt einfach mehr Zeit zu bekommen, die man nicht einschätzen und daher nicht sinnvoll nutzen kann, könnte das gemeinsame Aufstellen eines Zeitplans effektiver sein (natürlich auch wieder als Alternativangebot, nicht als Musterlösung für alle).
Auch wöchentliche Abgaben, durch welche die Lehrenden sehen wollen, wer die Texte gelesen oder die Inhalte verstanden hat, erschweren mir die Erarbeitung. Anstatt in Ruhe den vorliegenden Text zu lesen oder das neue Thema zu durchdringen, bin ich damit beschäftigt, die Aufgabe zu erfüllen. Nachdem diese dann erfüllt ist, bleibt selten noch Zeit mich mit dem zu beschäftigen, was ich selbst hätte wiederholen wollen. Des Weiteren hängen diese wöchentlichen Abgaben das ganze Semester über meinem Kopf. Sobald eine erledigt ist, muss ich mich um die nächste kümmern. Es gibt keinen Zeitpunkt, an dem diese Aufgabe erledigt ist.
Auch bestimmte PartnerInnenarbeiten sind für mich nicht erfüllbar. Meiner Erfahrung nach aufgrund derselben Informationsverarbeitungsproblematik. „Autismus ist gekennzeichnet durch Unterschiede in Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, Sprache, sozialer Kommunikation und Interaktion“[8]. Eine Situation, in der mir eine Aufgabe gestellt wird, die ich dann direkt in Zusammenarbeit mit meiner/m zufälligen SitznachbarIn lösen soll, stellt mich vor unüberwindbare Schwierigkeiten. Ich kann die Lösung und alle nötigen Informationen genau wissen, das bedeutet aber noch lange nicht, dass mir diese auch sprachlich/kommunikativ zugänglich sind. In Kombination mit der sozialen Interaktion in PartnerInnenarbeit, bei der ich mich auf soziale Konventionen konzentrieren muss, die für neurotypische Personen offenbar so natürlich sind, dass sie einfach passieren und keine Energie verbrauchen, verbrauche ich meine Energie dafür, angemessen zu interagieren und kann mich dadurch nicht auf den Inhalt konzentrieren.
Auch Regelungen zur Anwesenheitspflicht[9] sorgen für Probleme. Ob durch Neurodivergenz oder chronische Erkrankungen (oder Gründe, an die ich gerade nicht denke), es führt zu Arztterminen, bei denen man sich die Zeiten selten aussuchen kann. Man legt diese Termine nicht mit Absicht auf die Zeiten der Seminare, sondern hat schlichtweg keine andere Wahl, wenn es so oder so schon monatelange Wartezeiten gibt. Verschiedene Situationen führen auch dazu, dass man nicht in der Lage ist, an einem Seminar teilzunehmen. Man ist aber nicht in dem Sinne krank, dass man statt zur Uni zum Arzt gehen kann. Oft ist es weniger anstrengend, sich durch ein Seminar zu quälen, aus welchem man dann keinen Mehrwert zieht, als sich in ein volles Wartezimmer zu setzten nur, um die Abwesenheit im Seminar zu rechtfertigen. Dies wird noch zugespitzt, wenn sogar durch ärztliche Atteste belegte Fehlstunden in die erlaubten Fehlzeiten eingerechnet werden und eine Prüfungsteilnahme versagt wird, sollte man die erlaubte Stundenzahl überschreiten.
Warum soll ich nicht zeigen dürfen, was ich leisten kann, nur weil ich eine willkürlich festgelegte Anzahl an abwesenden Stunden überschritten habe? Bin ich weniger wert, wenn ich eine abweichende Arbeitsweise habe?
[1] Amtliche Bekanntmachung NR. 1543 | 08.02.2023
Antidiskriminierungsrichtlinie der Ruhr-Universität Bochum
https://uni.ruhr-uni-bochum.de/de/antidiskriminierungsrichtlinie-der-ruhr-universitaet-bochum
[2] Ebd.
[3] RAHMENPLAN GLEICHSTELLUNG DER RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM 2020 – 2024 https://www.chancengleich.ruhr-uni-bochum.de/cg/mam/content/rub_rahmenplan_gleichstellung_2020_2024.pdf
[4] RAHMENPLAN GLEICHSTELLUNG DER RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM 2020 – 2024. GRUNDSÄTZE FÜR DEN RAHMENPLAN GLEICHSTELLUNG 2020-2024. 3. Campuskultur. (S. 1).
[5] AMTLICHE BEKANNTMACHUNG NR. 1186 | 03.11.2016
Gemeinsame Prüfungsordnung für den 2-Fächer-Bachelor-Studiengang an der Ruhr-Universität Bochum
https://www.sowi.ruhr-uni-bochum.de/mam/fak/fak/dok/pruefungsordnung_2fach.pdf
[6] Ebd.
[7] Mehr zum fehlenden Zeitgefühl auch hier: https://aspietrifftschalentier.home.blog/2019/09/17/zeitgefuehl-und-tagesrhythmus/
[8] https://autismus-kultur.de/was-ist-autismus/
[9] Diese kann beim Asta gemeldet werden: https://asta-bochum.de/anwesenheitspflichtmelder/
„Warum soll ich nicht zeigen dürfen, was ich leisten kann, nur weil ich eine willkürlich festgelegte Anzahl an abwesenden Stunden überschritten habe?‘
Die Frage hat nichts mit Autismus oder andere Beeinträchtigungen zu tun, sondern ist ein Argument gegen die Anwesenheitspflicht an sich.
Huhu,
der AStA hat beispielsweise einen Anwesenheitspflichtmelder: https://asta-bochum.de/anwesenheitspflichtmelder/ – du hast Recht damit, dass eine Anwesenheitspflicht generell abzulehnen ist.
Es ist jedoch auch so, dass eine solche Pflicht besonders solche Menschen trifft, die aufgrund einer Behinderung oder Beeinträchtigung nicht in der Lage dazu sind eine solche Pflicht wahrzunehmen.
Eine neurotypische Person empfindet es sicherlich als unangenehm und störend aber kann möglicherweise noch besser damit umgehen als eine Person die von einer psychischen Erkrankung betroffen ist.
Das sind beides sehr gute Gründe um eine Anwesenheitspflicht abzulehnen und abzuschaffen. Ich denke der Kommentar verdeutlicht das ganze noch weiter und trägt dazu bei eine Anwesenheitspflicht für alle abzulehnen, nicht nur für neuridverse Personen.
Das selbe Beispiel kann man auch mit Aufzügen führen: Eine Person die laufen kann und etwas schweres transportieren möchte würde sich sicherlich einen funktionierenden Aufzug wünschen. Eine Person die nicht laufen kann ist darauf angewiesen, dass es einen Aufzug gibt. Auch wenn es beide betrifft ist eine Person davon stärker eingeschränkt.
Natürlich geht es um Verbesserung für alle aber ich denke es ist genauso valide hervorzuheben, dass Studenten mit einer entsprechenden Einschränklung besonders Probleme mit einer Anwesenheitspflich haben.
Beste Grüße
Thorger